Hallo, liebe Leserinnen und Leser, mögen Sie Bienen?
Ob wir uns grundlegend zu Dingen hingezogen oder von ihnen abgestoßen fühlen, hängt, wie Sie wahrscheinlich wissen, davon ab, wie sie uns vermittelt wurden. Baden im Meer? Nicht wenn Sie als Kind das zweifelhafte Glück hatten, “Der weße Hai” zu sehen. Vampire? Kommt wohl darauf an, ob Sie eher an Bram Stoker oder an Edward Cullen denken: Wovor Gott Sie behüten möge.
Mit den Bienen ist es das Gleiche: Haben Sie bei diesem Wort zwei anthropomorphisierte Zeichentrickbrummer vor Ihrem inneren Auge und einen etwas dümmlich klingenden Tschechen im Ohr, dann werden Sie vermutlich kein ungutes Gefühl empfinden, wenn Sie sich in die Nähe eines Bienenstocks imaginieren.
Ich hingegen fühle mich bei dieser Vorstellung deutlich unwohl, denn, und hier sind wir beim eigentlichen Thema dieses Betrags: wenn ich an Bienen denke, denke ich an Thomas J und “MY Girl”.
Thomas James Sannett ist 1972 elf Jahre alt. So wie auch seine beste Freundin, Vada Sultenfuss, lebt er in Madison (Pennsylvania, nicht Wisconsin) und besucht die Middle School. Nur ist gerade keine Schule sondern Sommer, einer dieser endlosen, durch nichts zu beschreibenden, amerikanischen Coca-Cola-Sommer, die sich vom Memorial Day bis in den September strecken und prall vor lauter Licht und Hitze sind, angefüllt mit einem Duft von Popcorn und Lakritz. Sehen Sie bei diesen Worten auch eine Karikatur von Richard Nixon vor sich? Oder erinnern Sie sich an Ihren allerersten Kuss? Riechen Sie das Freibad? Genau diese Art von Nostalgie (und Kitsch) ist es, worauf der Film abzielt. Warum das in diesem Fall aber überhaupt nicht schlimm ist, dazu kommen wir gleich.
Lassen Sie uns zunächst die Fakten durchgehen. Sie wissen schon, wie wenn man zuerst die Erbsen isst und sich den letzten Wursthappen bis zum Schluss aufhebt.
Ganz objektiv betrachtet, ist Vada die Hauptfigur dieses recht seichten Tomboy-Films (Tomboys sind Mädchen, die sich nicht an die gängigen Klischees halten wollen, die mit ihrer Geschlechtsidentität in Verbindung gebracht werden - in Vadas Fall trägt sie lieber Latzhosen als Kleider) aus den frühen Neunzigern. Dan Aykroyd und die begnadete Jamie Lee Curtis spielen ihren Vater und dessen kecke Kosmetikerin, sind aber eigentlich kaum von Bedeutung.
Von Bedeutung ist einzig die Beziehung der zwei Kinder, denn sie sind nicht nur beste Freunde, Vertraute und Komplizen sondern auch einander all das, was sie in ihrem Umfeld nicht mehr finden. Vada verteidigt Thomas J, der für sein Alter etwas klein geraten ist, eine ziemlich dicke Brille trägt und unter zahllosen Allergien leidet, gegen jede Niedertracht. Thomas J gibt Vada die bedingungslose Liebe, die sie, seit dem frühen Tod ihrer Mutter, Zuhause nicht mehr finden kann. In ihrer Zuneigung, deren Darstellung weit über die Mär kindlicher Unschuld hinausgeht (so erzwingt Vada ihren ersten Kuss unter der halb ernsten, halb spielerischen Androhung von Gewalt), stehen die beiden einander zur Seite und widerstehen einer Welt, die unter den Bedingungen der umfassenden Liberalisierung der späten sechziger und siebziger Jahre ein ganzes Heer dysfunktionaler Erwachsener hervorbringt, die keinerlei Verantwortung mehr übernehmen können oder wollen. Es gibt keine Autoritäten mehr, nur noch ausgewachsene Exemplare, Egomanen, die sich an ihrer Infantilität festklammern und nichts wahrnehmen als sich selbst. Es waren Kinder wie diese, die nur ein paar Jahre später Punk als konformistischen Einspruch gegen die gleichgültige Ohnmacht ihrer Hippie-Eltern formulierten und deren, als Rebellion getarnte Fortschreibung des Hyper-Egoismus, Ichbezogenheit jene Menschen prägte, die wir heute Millennials nennen. So können wir den Ausdruck in Vadas Augen, wenn sie gezwungen wird an einer Gruppenmeditation teilzunehmen, nicht nur als den Ausdruck der individuellen Abscheu gegen den Lifestyle-Aberglauben der Generation ihrer Eltern deuten, sondern auch als kollektiv erhobenen Vorwurf aller Schutzbefohlenen, die in den Gesellschaften der Postmoderne um ihr Recht betrogen wurden, im adulten Gegenüber mehr zu finden, als ein anderes, vergreistes Kind.
Dieser Betrug und seine Auswirkungen werden dann am deutlichsten, wenn die Katastrophe in das Leben tritt. Dass es sich hierbei um den Tod eines der Protagonisten handelt, kann an dieser Stelle ruhig verraten werden, denn wie in Familienfilmen üblich, wird das uns erwartende Übel über die gesamte Handlung hinweg angedeutet und vorbereitet. über die üblichen Konventionen des Genres setzt sich My Girl aber insofern hinweg, als das der Tod hier nicht das Ende einer langen Krankheit darstellt sondern plötzlich über die Welt hereinbricht, frei von jeder Sinnhaftigkeit, ganz ohne einen Zweck zu erfüllen. Wir erleben einen wahrhaftigen Verlust, ein schmerzliches Fehlen über das nichts hinweg tröstet, an dem nichts wächst und nichts deutlich wird, das keine höhere Bedeutung hat und das nichts in sich birgt, als Verzweiflung und Schmerz. Hier arbeitet der Film gegen sich selbst, besser gesagt, gegen das, was er uns vermitteln will. Denn es sind nicht jene Szenen, die uns im Gedächtnis bleiben, in denen versucht wird, uns das Sterben und den Tod als etwas sinnstiftendes, die Lebenden verbindendes begreifen zu lassen.
Viel länger, viel intensiver werden wir uns daran erinnern, wie während der Beisetzung einer der Hauptdarsteller ein weinendes Kind an den Sarg stürmt.
Unmittelbar vorher hören wir den Pfarrer sprechen, und schon hier geschieht bemerkenswertes, denn während wir die austauschbaren Worte eines Mannes hören, dessen Profession es ist, allgemeines zu behauptet, wo es um die Substanz jedes Individuums geht, sorgt der Schnitt dafür, dass wir den trauernden Eltern sehen. Die hoffnungslosigkeit, die ihnen ins Gesicht geschrieben steht, straft alles gesagte Lügen. Der Tod ist keine Metapher. Und doch sind sie sprachlos, können nicht gegen die Behauptungen ansprechen, so dass die Lüge unwidersprochen bleibt. Erst, wenn das Kind - wie im Märchen, wie eine heilige Johanna der Trauerbegleitung - erscheint und als einziger die offenkundige wie unaushaltbare Wahrheit und den Namen desjenigen sagt, der sich im Sarg befindet und klar den Schmerz benennt, ja beinahe selbst erfährt, den der Tote empfunden haben muss, erstrahlen all die hilflosen Trauerrituale, die wir erfunden haben, um den Tod erträglicher zu machen, in einem kalten, klaren Licht. “Death is real, someone’s there and then they’re not”, wie Phil Elverum in seinem Song “Real Death” singt und damit all das Elend der Sterblichkeit in einem Satz zusammenfasst.
Ich hoffe, liebe Leserinnen, liebe Leser, ich habe Ihnen mit meinen Ausführungen keine Angst gemacht. “My Girl” ist vor allem eins: ein süßer, harmloser, in manchen Momenten kitschiger Film über Freundschaft und Liebe, der sich traut das Thema Tod zu streifen. Das tut er auf sanfte, liebevolle Weise, so kindgerecht, wie es in den neunziger Jahren eben möglich war. Weder Sie noch ihre vielleicht vorhanden Kinder, werden von diesem Film intellektuell überfordert oder traumatisiert werden. Das verspreche ich ihnen. Was ich ihnen nicht versprechen kann, ist dass Sie nicht ein oder zwei Tränen vergossen haben werden, wenn sie den Fernseher wieder ausschalten. Aber ist das eine schlechte Sache?
Bevor Sie sich fragen: Nein, ich habe nicht vergessen, dass wir eigentlich über Bienen gesprochen haben, bzw. darüber, warum ich mich in deren Gegenwart nicht sonderlich wohl fühle. Wenn Sie My Girl geschaut haben, werden Sie verstehen warum. Nutzen Sie die Chance und erklären Sie dem kleinen Menschen, der vielleicht mit ihnen schaut, was für interessante, nützliche und vor allem harmlose Geschöpfe Bienen sind. Nutzen Sie dafür gerne ein Buch aus dem Bestand unserer Sammlung. Mein Tipp: “Die Biene” aus der Reihe “Meine große Tierbibliothek”.
“My Girl - Meine erste Liebe” (freigegeben ab 6 Jahren) finden Sie als DVD in der Filmabteilung unserer Familienbibliothek im ersten Stock der Zentralbibliothek.
Dort finden Sie auch “Die Biene”. Weitere Exemplare finden Sie in der Fahrbibliothek und in der Zweigstelle im Florapark.
DVD, 2004, Regie: Howard Zieff, Darsteller: Dan Aykroyd, Jamie Lee Curtis, Macaulay Culkin, Anna Chlumsky